Essen gegen eine Spende: in Corona-Zeiten für viele eine Frage des Überlebens
30. Dezember 2020 — Kathi Flau
Für manche, die durch Corona weniger oder gar nicht arbeiten können, reicht das Geld kaum für genug Essen. Ihre Zahl wächst – spürbar für die Lebensmittel- Ausgaben der Tafel, der Vinzenzpforte und des Guten Hirten.

Von Kathi Flau
Ja, sagt Reinhard Aksamski, stellvertretender Leiter des Sozialen Mittagstisches des Guten Hirten, tendenziell kommen seit dem Frühjahr spürbar mehr Menschen, um sich in der Pfarrgemeinde Lebensmittel abzuholen. Und seit dem Frühjahr heißt: seit Corona. „Aber vor allem“, sagt Aksamski, „kommen andere Leute als sonst.“
Ungefähr 30 Menschen pro Monat sehe er derzeit, die er noch nie zuvor gesehen habe. „Das sind häufig die, die über lange Zeit in Kurzarbeit mussten. Oder die gar keinen Job mehr haben.“ Dafür blieben andere eine Zeitlang weg. „Ältere, die Angst haben rauszugehen“, sagt Aksamski. „Oder Leute, die dann tatsächlich krank wurden.“
Pro Woche gibt der Gute Hirt 500 bis 600 Kisten an Lebensmitteln aus. Aksamski allerdings fürchtet, dass der tatsächliche Bedarf damit noch längst nicht gedeckt ist. „Ich glaube, die Hemmschwelle, zu uns zu kommen, ist nach wie vor sehr hoch.“
Um sie nicht noch weiter zu erhöhen, besteht die Einrichtung nicht länger auf einen behördlichen Nachweis der Bedürftigkeit. „Wer zu uns kommt, weil er in Not ist, der kriegt auch was“, sagt Aksamski. „Und wer sich hier in die Schlange stellt, dem glaube ich auch erstmal, dass er in Not ist.“ Der Gute Hirt wolle unbürokratisch handeln, gerade jetzt, wo so viele Menschen die Hilfe nötig hätten.
Bei der Tafel, die keinen kirchlichen Träger hat, sondern ein Verein ist, könnte Chefin Annelore Ressel die Regularien nicht einmal dann umgehen, wenn sie das wollte. Eine Tafel darf Lebensmittel nur an Menschen weitergeben, die den täglichen Lebensmittelbedarf für sich und ihre Familien nicht selbst decken können – so ist es gesetzlich festgelegt. „Aber unabhängig davon finde ich den Nachweis auch richtig“, sagt Ressel, „denn wir wollen denen helfen, die es auch wirklich brauchen.“
Menschen mit geringen finanziellen Mitteln, die etwa BAföG beziehen, Arbeitslosengeld, Grundsicherung oder ergänzender Grundsicherung im Alter, Erwerbsminderungsrente sowie Sozialhilfe. Sie alle erhalten hier einmal wöchentlich Lebensmittel, ebenso wie Menschen, die zwar arbeiten gehen, dabei aber nur 60 Prozent oder weniger des durchschnittlichen Einkommens verdienen.
Oder die eben durch Corona in eine Notlage geraten sind. „Menschen”, wie Ressel sagt, „deren normale Lebenssituation oft schon mühevoll ist. Und die jetzt richtig zu kämpfen haben.“ Allein die Tafel versorgt in der Woche derzeit 2800 Menschen in Hildesheim mit Lebensmitteln. „Und täglich“, sagt Chefin Annelore Ressel, „kommen neue hinzu.“
Für sie Grund genug, ihre Essensausgabe auch unter Corona-Bedingungen offen zu halten. „Gerade jetzt brauchen die Menschen diese Unterstützung doch am nötigsten.“ Um nicht, wie so viele andere Tafeln in Deutschland, schließen zu müssen, hat Ressel die Ausgabe nach allen Hygienevorschriften und Abstandsregeln organisiert – noch straffer als sonst.
Die Menschen müssen telefonisch einen Termin vereinbaren, bevor sie Lebensmittel abholen kommen. „So bilden sich keine Schlangen vor der Tafel. In einer Ausgabe sind maximal fünf Personen“, sagt Tafel-Chefin Annelore Ressel. Eine neue Regelung gibt es allerdings: „Menschen ab 60 haben jetzt einen eigenen Ausgabetag. Außerdem nutzen meine Mitarbeiter immer nur zwei der vier Tresen.“
Damit soll ein Abstand von über anderthalb Metern der Mitarbeiter zu den Kunden eingehalten werden. Die müssen ihren Ausgabeausweis und den symbolischen Betrag, den sie für die Lebensmittel zahlen wollen, in eine Kiste legen. Dann gilt es, sich unter Aufsicht die Hände zu desinfizieren. „Erst dann dürfen die Leute in den Aufenthaltsraum“, sagt Ressel. Von dort werden die Kunden aufgerufen, wenn im Ausgaberaum Platz ist.
So kämpft die Tafel darum, ihre Arbeit weitermachen zu können. Und freut sich über die so wichtigen Spenden: Zu Weihnachten gab es für den Verein 3000 Euro von der KWG, die die Wohnbaugesellschaft sonst in eine große Weihnachtsfeier mit allen Kollegen investiert hätte. Und noch einmal 2200 Euro von den Sportfliegern des Aeroclubs dazu. „Das hilft uns enorm weiter in diesen Zeiten“, sagt Ressel.
In der Vinzenzpforte hat Jeanne Golla, Leiterin der Einrichtung, den Aufenthaltsraum für die Besucher geschlossen. „Den haben wir sonst immer am Morgen geöffnet und dort ein Frühstück angeboten. Dann konnten die Leute bis zum Nachmittag bleiben.“ Jetzt wird das Mittagessen an der Tür in mitgebrachte Behälter ausgegeben. Und das Frühstück auch – in seinen Bestandteilen quasi. „Wir geben den Leuten Brot, Milch, Kaffee und Obst mit“, sagt Golla. „Sofern wir noch etwas zum Mitgeben haben.“
Nahrungsmittel werden knapp. Um genug für alle Bedürftigen zu kaufen, reicht das Geld kaum. „Wir brauchen dringend Spenden“, sagt Golla, „Wir befinden uns in einer anderen Versorgungslage als vor Corona.“ Denn nun kauften sie für die Menschen ein, die zuvor aus einem vorhandenen Lebensmittelbestand versorgt wurden. Deshalb seien vor allem Geldspenden nötig.
Für Golla ist klar: Die Vinzenzpforte darf keinesfalls schließen. „Die Lebensmittelgeschäfte schließen ja auch nicht“, sagt sie, „wieso dann die Lebensmittelausgaben?“ Die Bedürftigen, die zu ihr kommen, hätten gar keine Chance, in regulären Geschäften einzukaufen. „Für viele ist das hier eine Frage des Überlebens.“
IN ZAHLEN
3000
Menschen nutzen in Hildesheim die Essens- und Lebensmittelausgaben der Tafel, des Guten Hirten und der Vinzenzpforte. Tendenz steigend, wie es die leitenden dieser Einrichtungen übereinstimmend beobachten.
3
Gruppen in der Bevölkerung waren und sind von den Einschränkungen durch Corona besonders betroffen und deshalb laut Angaben der Tafel oft auf besonders günstige Nahrungsmittel angewiesen: Menschen in Kurzarbeit, Soloselbstständige und die, die ihren Job oder Nebenjob verloren haben.
400
der etwa 940 Tafeln in Deutschland wurden im ersten Corona-Lockdown geschlossen. Im zweiten waren es nur noch vereinzelte Einrichtungen, unter anderem zwei Tafeln in Alfeld. Die Ausgabe in Hildesheim war hingegen ganzjährig geöffnet.
“Eigentlich müsste es in jedem Stadtteil einen öffentlichen Kühlschrank geben. Mindestens einen.”
Katrin Bode Diakonin der Martin-Luther-Gemeinde
Essen aus dem Kühlschrank, anonym und umsonst Hildesheim.
Auch an der Martin-Luther-Kirche in der Hildesheimer Nordstadt gibt es Lebensmittel – anonym und kostenlos für alle zum Mitnehmen.
Das Prinzip dieses Kühlschranks, des sogenannten Fairteilers, ist einfach: Man nimmt heraus, was andere hineingestellt haben. Wer etwas übrig hat, egal ob frisches Obst, Salat, Würstchen oder Schokolade, legt es entsprechend verpackt in eines der Fächer. Und wer etwas braucht, der findet es dort.
Eine Idee, deren sozialer Charakter offensichtlich ist. Die aber auch ein ökologisches Ziel verfolgt, nämlich der ebenfalls stetig wachsenden Lebensmittelverschwendung etwas entgegenzusetzen. „Von den weltweit vier Milliarden Tonnen Lebensmitteln, die jedes Jahr weltweit produziert werden, werden am Ende 1,3 Milliarden Tonnen weggeschmissen“, informiert ein Video der Foodsharing-Lebensmittelretter, einer Gruppe, die in ganz Deutschland Aktionen gegen die Verschwendung organisiert. Die Hildesheimer Gruppe postet regelmäßig in den sozialen Netzwerken, was es aktuell im Nordstadt-Kühlschrank an Essen gibt.
Die Idee, diesen Kühlschrank aufzustellen, hatte Diakonin Katrin Bode bereits Anfang 2018. Und die stieß anfangs auf viel Skepsis, wie Bode erzählt. „Viele dachten, dass niemand Nahrungsmittel vorbeibringen würde oder wenn, dann nur solche, die wirklich keiner mehr möchte.“ Doch was passierte, war genau das Gegenteil: Nicht nur begannen viele Menschen das Angebot zu nutzen, zu viel gekaufte Lebensmittel öffentlich abgeben zu können – sie gingen auch sehr sorgsam mit dem Kühlschrank um.
Ein Rätsel sei ihr, sagt Katrin Bode, warum es nicht auch anderswo in Hildesheim solche Kühlschränke gebe. „Eigentlich müsste es in jedem Stadtteil so ein Angebot geben.“ Denn das Bewusstsein der Menschen für den Wert von Nahrungsmitteln steige stetig – und andererseits auch die Bedürftigkeit vieler Menschen. „Da ist Teilen doch genau das richtige Prinzip.“
Einzig bei der Standortwahl für so einen Kühlschrank im Freien müsse man ein wenig überlegen. So etwa spiele es eine Rolle, dass der an der Martin-Luther-Kirche überdacht ist. „Aber ansonsten, wenn da jemand ist, der das ganze Projekt ein wenig beobachtet und betreut, ist das ganz einfach.“
Ihre Erfahrungen, so Katrin Bode, gebe sie gern an Interessierte weiter, wenn die ebenfalls einen Kühlschrank aufstellen wollen.
Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 30.12.2020