Der Einwohner-Rückgang im Landkreis verstärkt sich – und erfasst auch Hildesheim
23. Juni – Tarek Abu Ajamieh
Der Landkreis Hildesheim verliert Einwohner, die Entwicklung beschleunigt sich. Auch die Kreisstadt verbucht Verluste, einige Kommunen trotzen aber dem Trend. Aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Die Einwohnerzahl des Landkreises Hildesheim ist im vergangenen Jahr erneut gesunken – es war der deutlichste Rückgang seit mehreren Jahren. Damit setzte sich der seit vier Jahren anhaltende Abwärtstrend fort. Zum Jahreswechsel hatte der Kreis noch 275 817 Bürger und damit exakt 777 weniger als ein Jahr zuvor. Das entspricht der Bevölkerung eines durchschnittlichen Dorfs. Immerhin: Fachleute hatten dem Kreis und seinen Kommunen in einer Studie im Jahr 2012 noch ein deutlich stärkeres Minus vorhergesagt.

Ein wesentlicher Grund für den Bevölkerungsschwund ist die Entwicklung in der Kreisstadt Hildesheim. Die hatte in den vergangenen Jahren stets, wenn auch leichte, Zuwächse verzeichnet. Im vergangenen Jahr ging die Einwohnerzahl jedoch um 297 zurück. „Das liegt in erster Linie daran, dass im Stadtgebiet nicht nur Baugrundstücke und schon seit längerem Einfamilienhäuser fehlen, sondern gerade bei den Studenten, deren Anzahl gestiegen ist, der Bedarf nach Kleinstwohnungen derzeit nicht abgedeckt werden kann“, sagt Stadt-Sprecher Helge Miethe. Vermutlich würden daher viele Studenten pendeln. „Nicht umsonst haben wir derzeit viele Bauprojekte in dieser Richtung auf dem Tisch“, so Miethe.

Studenten im Fokus
Die aktuellen Zahlen sprechen durchaus für diese These: Den üblichen Anstieg im letzten Quartal des Jahres, ausgelöst durch zugezogene neue Studenten, gab es zwar auch 2019. Doch er fiel deutlich geringer aus als in den Jahren davor.
Das Hildesheimer Schicksal teilen die meisten Kommunen im Landkreis. Gleich 13 von ihnen verbuchten rückläufige Einwohnerzahlen, besonders heftig fielen die Verluste in Alfeld und im Leinebergland aus. Ganze fünf Städte und Gemeinden gewannen im Lauf des vergangenen Jahres Einwohner hinzu. Darunter sind mit Bockenem und Elze zwei Städte aus dem eigentlich strukturschwächeren Südkreis, die schon in den Vorjahren Zuwächse vermeldet hatten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Auch Sarstedt zählt zu den Gewinnern – es ist zugleich die einzige Stadt im Landkreis, die auch in der Betrachtung der vergangenen zehn Jahre Einwohner gewonnen und nicht verloren hat.
Den leichten Wieder-Aufwärtstrend der vergangenen Jahre bestätigte auch Algermissen. Mit Harsum hat nun möglicherweise eine weitere Nordkreis-Gemeinde den Tiefpunkt hinter sich gelassen. Nach einem permanenten Abwärtstrend bis 2018 legte Harsum nun leicht zu. Bürgermeister Marcel Litfin führt das vor allem auf das Baugebiet Ährenkamp mit 68 Einfamilienhäusern, die zum Großteil bereits bezogen worden sind, zurück. „Aktuell befinden sich dort noch drei Geschosswohnungsbauten in Fertigstellung. Diese werden mit dem Bezug einen weiteren positiven Beitrag zur Trendwende leisten“, hofft der Verwaltungschef.
Die drei Nord-Gemeinden dürften auch künftig eher zu den Gewinnern zählen. Aufgrund ihrer Lage zwischen Hannover und Hildesheim sind sie vor allem bei Häuslebauern beliebt und weisen immer wieder neue Baugebiete aus.
Elze ist Nachbarn voraus
Letzteres tut auch Elze mit großem Erfolg. Während die Nachbarn Leinebergland und Nordstemmen zu den größten Verlierern der Einwohnerstatistik zählen, setzte die Kleinstadt den Erfolgsweg der vergangenen Jahre fort. Als Motor erwies sich dabei vor allem das Baugebiet Hanlah nahe der Bundesstraße 1 im Norden der Stadt – aufgrund der großen Nachfrage gibt es dort nun einen weiteren Bauabschnitt.
Wie die Nordkreis-Kommunen, so hat auch Elzes Bürgermeister Rolf Pfeiffer einen gestiegenen Zuzug aus der Region Hannover festgestellt. Zwar haben die Grundstückspreise auch in Elze kräftig angezogen, sind aber noch immer deutlich günstiger als rund um die Landeshauptstadt, die zudem über die Bundesstraße 3 und die Bahnlinie gut zu erreichen ist. Interessant wird in den nächsten Jahren, ob Nordstemmen es auch schafft, von dieser Ausgangslage zu profitieren. Auch in dieser Gemeinde stehen neue Baugebiete an, vor allem in Barnten, die Nachfrage ist groß.
Baugebiete sind auch ein Grund, mit dem Bockenems Bürgermeister Rainer Block die Entwicklung in seiner Stadt erklärt. „Der Anteil der Bauherren, die nicht innerhalb der Kommune umziehen, sondern von außerhalb kommen, ist recht hoch“, hat er beobachtet. Im Vorjahr spielte zudem eine Rolle, dass der mit Abstand größte Arbeitgeber Meteor zusätzliche Stellen schuf. In diesem Jahr will das Unternehmen allerdings Arbeitsplätze abbauen.
Bockenems Balkan-Effekt
Und schließlich gibt es noch einen Effekt, den Block differenziert betrachtet. So ziehen überproportional viele Menschen aus Bulgarien, Rumänien und weiteren südosteuropäischen EU-Ländern nach Bockenem, weil sie von einigen örtlichen Arbeitgebern gezielt angeworben werden – und oft nach einer bestimmten Zeit arbeitslos werden und damit Anspruch auf Sozialleistungen erworben haben.
„In meinen Augen sind das Armutszuwanderungen, die eine kleine Kommune wie Bockenem vor große Herausforderungen stellen“ sagt Rainer Block. Dass sich manche von ihnen gern in größeren Gruppen auf dem zentralen Buchholzmarkt treffen und es dabei mit Lautstärke und Müllentsorgung nicht immer so genau nehmen, beschäftigt Bürger und Stadt schon länger. „Das sind aber nicht alle, sondern einzelne Gruppen“, sagt Block, der regelmäßig das Gespräch mit diesen Neubürgern sucht.
Neubürger gibt es in vielen anderen Kommunen nicht so oft. Gerade im Altkreis Alfeld ist die Entwicklung der Bevölkerungszahlen weiter rückläufig. Nirgends wird das so deutlich wie in der Samtgemeinde Leinebergland, deren Einwohnerzahl binnen eines Jahres um fast ein Prozent schrumpfte und damit so schnell wie noch nie.
Verzweifelter Kampf
Dabei wehren sich die Verantwortlichen fast schon verzweifelt gegen den Niedergang. Vor allem in Gronau schreitet die Ansiedlung von Unternehmen und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen voran, große Ackerflächen zwischen Weststadt und Bundesstraße 3 fallen dem zum Opfer. Auch befasst sich die Stadt derzeit mit der Frage, wo sie neue Baugebiete ausweisen kann.
In der örtlichen Politik führte das schon zu intensiven Debatten, ob eine weitere Versiegelung von Flächen angesichts permanent sinkender Einwohnerzahlen noch gerechtfertigt sei. Eine Mehrheit will aber daran festhalten. Vor allem in vielen kleineren Orten rund um Gronau und Duingen wollen aber immer weniger Menschen leben.
IN ZAHLEN
9286
Einwohner hatte die Gemeinde Hohenhameln Ende 2019 – das waren 85 mehr als ein Jahr zuvor. Das ist zugleich fast ein Prozent Zuwachs.
10395
Einwohner hatte die Samtgemeinde Baddeckenstedt – ein Minus von 66. Dort könnte es durch das neue Baugebiet in Oelber aber wieder bergauf gehen.
IN KÜRZE
Prognose sah noch weit schlimmer aus
Der Bevölkerungs- Rückgang im Landkreis Hildesheim fällt deutlich weniger heftig aus als in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2012 vorhergesagt. Wären diese Prognosen eingetroffen, hätte der Kreis jetzt nur noch 264 000 Einwohner, die Kreisstadt hätte sich mit knapp 97 000 Menschen längst dauerhaft vom Großstadt-Status verabschiedet. Die Macher der Studie hatten damals für fast alle Kommunen im Kreisgebiet zum Teil deutlich geringere Einwohnerzahlen vorhergesagt, als die Städte und Gemeinden heute tatsächlich haben. Lediglich für Diekholzen und Holle hatten sie eine bessere Entwicklung prognostiziert, als es bisher tatsächlich gab. Vor allem für Diekholzen ist die Differenz groß, die Gemeinde kann wohl vor allem mangels großer neuer Baugebiete nicht von ihrer Position im Speckgürtel Hildesheims profitieren. Interessant wird sein, wie sich die künftige Gestaltung des früheren Geländes der Lungenklinik auf die Einwohnerzahlen auswirkt.
Doch warum haben sich die Analysten so deutlich verhauen? Erkennbar ist, dass sie unterschätzt haben, wie viele Menschen mehr in den Landkreis hineinziehen, als ihn gleichzeitig verlassen. Stattdessen haben sie vor allem Geburten und Sterbefälle hochgerechnet. Tatsächlich starben in den vergangenen Jahren im Kreis Hildesheim jährlich stets 1300 bis 1500 Menschen mehr, als im gleichen Zeitraum geboren wurden. Gleichzeitig gab es allerdings Jahr für Jahr hunderte mehr Zu- als Wegzüge.
Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 23. Juni 2020